S. Geiser u.a. (Hrsg.): Revolte, Rausch und Razzien

Cover
Titel
Revolte, Rausch und Razzien. Neunzehn 68er blicken zurück


Herausgeber
Geiser, Samuel; Giger, Bernhard; Jost, Rita; Kronenberg, Heid
Erschienen
Bern 2018: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
von
Daniel Weber

Das Jubiläumsjahr 2018 ist vorbei und hat eine Fülle von neuen Publikationen zur 68er-Bewegung hinterlassen. Anders als 2008, als zwei umfangreiche lokalhistorische Studien zu den Protestbewegungen in Bern und Zürich veröffentlicht wurden, befassen sich diesmal nur wenige Neuerscheinungen mit den Verhältnissen in der Schweiz. Die wichtigste Ausnahme betrifft den Basler Soziologen Ueli Mäder, dessen Buch 1968 – was bleibt? einen umfangreichen Überblick über die Ereignisse und Entwicklungen rund um 1968 in Schweizer Städten und Regionen und deren Folgen gibt. In Bern ist das Jubiläum in erster Linie durch die Ausstellung des Bernischen Historischen Museums (BHM) mit dem schlichten Titel 1968 Schweiz gewürdigt worden, wobei «1968» als Chiffre steht für den gesellschaftlichen Wandel und den Aufbruch, der sich von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre in der Schweiz (und zahlreichen anderen Staaten) vollzog.

Sechzehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beschrieben und kommentierten in der Ausstellung des BHM den damaligen Wandel. Mehrere von ihnen und ihre persönlichen Geschichten stehen im Zentrum des Buchs von Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost und Heidi Kronenberg, die sich gemeinsam auf die Spur der 68er-Bewegung im «kleinen braven Bern» machen. Sie tun dies auf einer persönlichen Ebene, indem sie Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung ihre Lebensgeschichten erzählen und in Gesprächen auf ihre damaligen Ideen und Motivationen, ihre Aktionen und ihre Vorstellungen von einer anderen und besseren Welt zurückblicken lassen. Zusammen ergeben die insgesamt neunzehn Beiträge, jeweils illustriert mit einem aktuellen Bild der porträtierten Person, ein dichtes und vielfältiges Bild der Berner 68er-Bewegung. Greifbar gemacht wird dieses Bild zusätzlich durch eingestreute Kurztexte zu neun Gegenständen, die als Symbole für die neuen Werte und die Lebenswelt der 68er stehen und die unterschiedlichen Strömungen und Einflüsse der Bewegung belegen. Es ging eben nicht nur um Protest und marxistische Theorie (Pflasterstein, Flugblatt), sondern auch um Ökologie (Jutesack), Frauenbefreiung (Pille), Drogen (Joint) und die Musik und Aussteigerromantik der Hippies (Gitarre, VW-Bus).

Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die Biografien der acht Frauen und elf Männer, die damals in der 68er-Bewegung zusammenkamen und mit ihren Aktionen auf Missstände aufmerksam machen und im eigenen Selbstverständnis eine bessere und gerechtere Gesellschaft schaffen wollten. Da sind bekannte Gesichter wie die langjährigen Nationalräte Peter Vollmer und Rudolf Strahm, die ehemalige Berner Gemeinderätin und Nationalrätin Therese Frösch und die grüne Nationalrätin Barbara Gurtner. Sie alle engagierten sich nach 1968 in linken politischen Parteien und brachten den bekannten «Marsch durch die Institutionen» hinter sich. Daneben reicht die Spanne der Porträtierten von der bald 90-jährigen Künstlerin Lilly Keller über den ehemaligen Hausbesetzer und späteren Professor an der Hochschule der Künste Beat Schneider bis zum gelernten Grafiker Marc Rudin, der aufgrund seiner Beteiligung an militanten Aktionen vorübergehend im Nahen Osten lebte und sich noch heute als «Widerstandskämpfer» sieht. Die Vielfalt ihrer Lebensgeschichten macht deutlich, dass die 68er-Bewegung in Bern (wie andernorts auch) aus einem «dichten Netz von Gruppen, Parteien, Zirkeln, einschlägigen Treffpunkten und offenen Wohngemeinschaften» bestand, das «sich quer durch die Generation der damals Fünfzehn- bis Dreissigjährigen zog», so die Herausgeber in ihrem Vorwort.

Trotz aller Unterschiede lässt sich auch Gemeinsames in den Lebensgeschichten entdecken. Es sind «neunzehn linke, zumindest antibürgerliche, Biografien aus dem Kanton Bern» am Ende des vergangenen Jahrhunderts, wie die Herausgeber schreiben, und es sind vor allem Geschichten vom «anderen Bern» von 1968, erzählt von Akteurinnen und Akteuren, die sich in ihrer grossen Mehrzahl bis heute als «politische Menschen» definieren und ihr damaliges Engagement in der einen oder anderen Weise weiterführten. Sie alle einte die grundsätzliche Opposition gegen das Bestehende, gegen eine bürgerliche Nachkriegsgesellschaft, die sich an wirtschaftlichem Fortschritt und Konsum orientierte, politisch und kulturell aber nach wie vor durch die Werte der Geistigen Landes verteidigung geprägt war und diese offensiv (und bisweilen aggressiv) gegen Andersdenkende verteidigte. Die 68er wollten diese Welt verändern und engagierten sich deshalb gegen den Krieg in Vietnam und für einen sozialen Umgang mit Fremden, probierten neue Wohn- und Lebensformen aus, feierten rauschende Feste und veranstalteten Demos und unkonventionelle politische Aktionen.

Die damaligen Gegensätze in der Wahrnehmung der Ereignisse und der Vorstellung einer künftigen Gesellschaft spiegeln sich noch heute in der Beurteilung von «1968». Hans Ulrich Jost, emeritierter Professor für Schweizer Geschichte an der Universität Lausanne, weist in seinem kurzen Vorwort darauf hin: «Für die einen bedeutet 68 ein von Hoffnungen und Utopien getragener Aufbruch in eine neue Zeit. Für die Gegenseite war es der Weg in den Abgrund, das Ende der bürgerlichen Werte.» Welches Na-rativ mehr Plausibilität für sich beanspruchen kann, hätte man gerne in einer Synthese der individuellen Lebensgeschichten gelesen, die dem Band aber leider fehlt. Sicher ist, dass das Erbe der 68er-Bewegung noch heute unsere Gesellschaft (mit-)prägt.

Bei den Autorinnen und Autoren der Porträts handelt es sich um sechs erfahrene Journalistinnen und Journalisten, was sich in sprachlich versierten und abwechslungsreichen Texten und in unterschiedlichen Formaten ihrer Beiträge niederschlägt. Obwohl sie altersmässig allesamt ebenfalls zur Generation der 68er gehören, gelingt es ihnen, trotz aller Empathie auch einen kritischen Zugang zu den Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zu bewahren. Nicht zuletzt dies macht das Buch für Fachleute wie für historisch interessierte Laien aufschlussreich und lesenswert.

Zitierweise:
Daniel Weber: Rezension zu: Geiser, Samuel et al. (Hrsg.): Revolte, Rausch und Razzien. Neunzehn 68er blicken zurück. Bern: Stämpfli 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 67-69.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 81 Nr. 4, 2019, S. 67-69.

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